Wie beurteilen Sie den Jahrgang 2020 des Schweizer Filmschaffens?
Ivo Kummer: In diesem Jahr fällt besonders auf, dass gesellschaftlich relevante Themen aufgegriffen wurden – zum Beispiel in den Spielfilmen «Schwesterlein» und «Platzspitzbaby» oder bei den Dokumentarfilmen «Das neue Evangelium» und «Saudi Runaway». Viele Filme reflektieren gesellschaftliche Phänomene, hinterfragen Systeme oder rücken Einzelschicksale in den Fokus. Sie sind nicht belehrend, sondern nehmen ihr Publikum ernst und überlassen ihm die Einordnung der Aussagen. Es fällt auch auf, dass auf fast allen Kontinenten gedreht wurde.
Was ist typisch für den aktuellen Schweizer Film?
Die Stärke des Schweizer Films zeigt sich in seiner Vielfalt. Aufgrund der viersprachigen Schweiz vermischen sich verschiedene Kulturen, Sichtweisen und Themenfelder, ob im Spiel-, Dokumentar- oder Animationsfilm. Auf diese reiche Ernte, die auch bei internationalen Filmfestivals Erfolge feiert, dürfen wir stolz sein.
In welchen Bereichen muss der Schweizer Film noch besser werden?
Jedes Filmprojekt ist eine neue Herausforderung, jedes Filmwerk ein Unikat. Deshalb ist es schwer zu sagen, in welchem Bereich der Schweizer Film noch besser werden sollte. Fakt ist aber, dass sich in den vergangenen Jahren die Schweizer Filmbranche stark professionalisiert hat und sich spezifische Fachkompetenzen aufgebaut haben.
In den USA ist es Hollywood. Wo ist in der Schweiz die Filmbranche zu Hause?
Die Schweizer Filmbranche ist kaum mit Hollywood zu vergleichen. Bei uns sind viele Produktionsfirmen typische KMU, in Hollywood gibt es mit den grossen Studios eine Industrie. Zürich hat sich als Zentrum, vor allem bei den filmtechnischen Betrieben, etablieren können. Doch dank anderer regionaler Filmförderungen wie in Basel, Bern oder der Westschweiz haben sich in jüngster Zeit andere Standorte entwickeln können und den dort wohnhaften Filmschaffenden eine Perspektive ermöglicht.
Wie hat Corona die Filmszene im letzten Jahr beeinflusst?
Corona zeigte und zeigt noch heute gravierende Auswirkungen auf die Filmbranche. Durch die Schliessung der Kinos entgingen über zwei Drittel der gewohnten Umsätze, Dreharbeiten wurden unterbrochen oder verschoben und Filmfestivals fanden nicht oder in hybrider Form statt. Wichtig ist nun, dass man sich auf die Zeit nach der Pandemie vorbereitet und ein achtsames Hochfahren der Betriebe sicherstellen kann, das heisst auch, dass man das Publikum aus der guten Stube mit Streaming-Angeboten wieder zurück an den Ort holen kann, wo sich der Film am besten und eindrücklichsten entfalten kann: auf der grossen Leinwand im Kino und mit anderen Menschen zusammen.
Foto: Ivo Kummer, Präsident der Nominierungskommission, © moduleplus